Verschiedenes
Göttinger Stadtgeschichte im Bild
Die Belagerung der Stadt im Dreißigjährigen Krieg 1626 und 1641
Thomas Appel
Göttingen: Wallstein 2020
€ 14,00
Zu diesem Buch:
Was für ein Absturz: Zur Zeit ihrer Entstehung in der Mitte des 17. Jahrhunderts standen die beiden großformatigen Gemälde in Göttingen im Mittelpunkt des politischen Interesses und genossen höchste Wertschätzung! Und dann hingen sie jahrzehntelang unscheinbar in der Dauerausstellung des Städtischen Museums: schlecht ausgeleuchtet, dürftig erläutert, von den wenigsten Besuchern beachtet.
Erst jetzt, fast vierhundert Jahre später, sind sie wieder in ihr altes Recht eingesetzt und gelten als zwei der stadtgeschichtlich wohl bedeutendsten Kunstwerke in der Sammlung des Museums: die Gemälde der beiden Belagerungen Göttingens im Dreißigjährigen Krieg 1626 und 1641.
Ihren Wiederaufstieg verdanken die Bilder den umfassenden Recherchen des Kunsthistorikers Thomas Appel, die jetzt in Buchform vorliegen. Zunächst und vor allem ist es Appel durch hartnäckige Suche in den Registern des Stadtarchivs gelungen, die Urheber der Bilder zu identifizieren: Die Belagerung von 1641 stammt von dem Göttinger Maler Daniel Münch, sein Sohn Justus schuf die Darstellung der Ereignisse von 1626.
Desweiteren weist Appel mit Nachdruck darauf hin, dass es sich hier um die ältesten Göttinger Ölgemälde weltlichen Inhalts und zu gleich um die ältesten, topografisch genauen Darstellungen der Stadt handelt. Der Detailreichtum der Bilder ist für Historiker, Kunsthistoriker, Denkmalschützer und alle an der Geschichte ihrer Stadt interessierten Göttinger eine unerschöpfliche Fundgrube.
Aber auch zu den dargestellten Ereignissen selbst hat Appel zahlreiche neue Erkenntnisse zu Tage gefördert. So konnte er glaubhaft machen, dass es sich bei dem prominent in Rückenansicht auf einem Schimmel dargestellten Reiter im Vordergrund der Belagerung von 1626 um General Tilly handelt, der wenig später siegreich in Göttingen einziehen konnte.
Damit aber nicht genug, denn der Verfasser bietet dem Leser viel mehr als der Titel verspricht. Er rekonstruiert, soweit dies überhaupt noch möglich ist, die Biografien von Daniel und Justus Münch, von denen der Vater bisher nur schemenhaft, der Sohn überhaupt nicht bekannt gewesen war. Darüber hinaus ist es ihm gelungen, diesen beiden einzigen Göttinger Malern des mittleren 17. Jahrhunderts weitere Werke zuzuweisen und durch gründliche Suche in den Akten des Stadtarchivs auch ihr sonstiges Tätigkeitsfeld fassbar werden zu lassen. Erkennbar werden so die dürftigen Lebensumstände eher handwerklich geprägter Maler in den schwierigen Kriegs- und Nachkriegsjahren, die sich auch mit einfachen Dekorationsmalereien und Anstreicharbeiten über Wasser halten mussten.
Appel verfolgt das wechselhafte Schicksal der Gemälde seit dem beginnenden 18. Jahrhundert über die Abgabe ans Museum 1893, den Weg der Belagerung von 1626 zurück ins Rathaus, ihre Auslagerung nach Herberhausen während des Zweiten Weltkriegs und schließlich die Rückkehr ins Museum zu einem nicht bekannten Zeitpunkt.
Last but not least aber hat der Verfasser die kunsthistorische und politische Bedeutung der Gemälde herausgearbeitet. Künstlerisch waren die beiden Gemälde von mittelmäßiger Qualität. Als aufeinander bezogenes Bilderpaar aber, in Auftrag gegeben von der betroffenen Stadt – nicht von einem siegreichen Feldherrn zur Mehrung seines Ruhms – stehen die beiden Gemälde in der europäischen Kunstgeschichte wohl einzigartig dar. Das gilt insbesondere für das von Justus Münch geschaffene Gemälde der Belagerung von 1626, das nicht einen Ereigniszusammenhang wiedergibt, sondern verschiedene, zeitlich weit auseinanderliegende Geschehnisse in einer Darstellung verknüpft. Die Botschaft an die zeitgenössischen Betrachter war klar: Sie sollten sich immer der Vergänglichkeit alles Menschenwerkes bewusst sein und des allgegenwärtigen Todes gedenken. Dem gegenüber stehen im Gemälde des Vaters, der selbst dem Göttinger Rat angehörte und die Belagerung 1641 persönlich miterlebt hatte, die konkreten militärischen Ereignisse im Vordergrund. Sie werden aber von den Symbolen der Erlösung durch Gottes Hilfe – dem Regenbogen und dem Silberstreifen am hellen Horizont – überwölbt.
Engstens damit verknüpft ist die politische Funktion der Bilder: Der Auftrag durch den Rat der Stadt Göttingen für beide Gemälde erfolgte noch vor dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück 1648. Ziel war es offenbar, damit die offizielle Interpretation der Kriegsereignisse in repräsentativer Form festzuhalten. Göttingen hat zwar im Krieg viel erlitten, dank der Hilfe Gottes und unter der weisen Führung seines Rates schließlich aber alle Schrecknisse überstanden. Die Gemälde sind nichts weniger als herausragende Dokumente einer gezielten Geschichtspolitik des Göttinger Rats. Adressaten dieser Botschaft waren die Ratsherren selbst, denn die Bilder hingen, normalen Sterblichen nicht zugänglich, im politischen Kraftzentrum von Göttingen, der Ratsstube, dem Versammlungsort der Ratsherren.
Neben der anregenden Lektüre bietet das Buch von Thomas Appel dem Besucher vielfältige Hinweise, um die Gemälde bei einem persönlichen Besuch im Städtischen Museumeine eingehender zu studieren. Wollen wir hoffen, dass dies bald wieder möglich ist!
Ernst Böhme